Ist der Rekurs auf Hilfe/Nicht-Hilfe für Soziale Arbeit denn hilfreich?

Im systemtheoretischen Diskurs erscheint mir die Orientierung am Code Hilfe/Nicht-Hilfe schon länger als sehr prominent im Bestreben einer Beschreibung von Sozialer Arbeit. Daran schließen sich dann oft Fragen nach der Konstruktion von Fällen der Sozialen Arbeit. Mir stellt sich die Frage, inwieweit dies hilfreich für die Identität von SozialarbeiterInnen in spezifischen Arbeitsfeldern von Sozialer Arbeit ist, wie z.B. in der Gemeinwesenarbeit oder in der Jugendarbeit? Oder werden diese dadurch ausgeblendet?

 

10 thoughts on “Ist der Rekurs auf Hilfe/Nicht-Hilfe für Soziale Arbeit denn hilfreich?

  1. Hallo in die Herrenrunde!

    Aus meiner Sicht werden spezifische Arbeitsfelder keineswegs durch die Reflexion der Differenz Hilfe/Nicht-Hilfe ausgeblendet. Es vermag zwar einer professionellen Transferleistung der einzelnen SozialarbeiterInnen und der Organisationen, die Differenz Hilfe/Nicht-Hilfe herunterzubrechen von der Ebene der funktionalen Differenzierung auf bspw. Fragen der Öffnung und Schließung von (Hilfe-)Interventionen (über Programme oder innerhalb der Einzelfallhilfe), oder auch der Frage nach dem Interesse an der jeweiligen Hilfebedürftigkeit/Nicht-Hilfebedürftigkeit (Interesse der Gemeinschaft oder der KlientInnen, bekannt unter der aus meiner Sicht irreführenden Differenz von Hilfe/Konrolle).

    Der Rekurs auf Hilfe/Nicht-Hilfe gelingt aus meiner Sicht dann, wenn er danach fragt, wer in der problematisch erachteten Konstellation Hilfe benötigt, und: an welches System sich die Intervention richten soll? Für was nutze ich meine zeitlichen Ressourcen? Bearbeite ich die Problemlage (etwa folgendes: Kind wird in seiner Entwicklung als retardiert eingestuft) in Zusammenarbeit mit den Eltern, oder dem Kind, oder im Einzelfall im Allgemeinen? Oder entscheide ich mich für eine andere Interpretation der Form Hilfe/Nicht-Hilfe und versuche, im lebensweltlichen Umfeld nach Ressourcen zu suchen, oder auf struktureller Ebene Missstände im Aufwachsen von Kindern zu skandalisieren oder bereits aufkeimende programmatische Lösungen auf struktureller Ebene zu würdigen und zu unterstützen.

    An der in der Praxis Anwendung findenden Differenz Hilfe/Kontrolle wird deutlich, inwieweit der Rekurs auf Hilfe/Nicht-Hilfe auf verschiedenen Ebenen sozialarbeiterischen Handelns hilfreich sein kann: Kontrolle kann dann aus Sicht des Systems Soziale Arbeit u. A. verstanden werden als Staatshilfe bzw. Intervention im Sinne eines normativen gemeinschaftlichen Konsens. Operationalisiert man diesen unschönen Begriff, würde dies der Dekonstruktion eines unscharf aufgeladenen Kontrollbegriffs dienen und in der Folge der Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe nutzen. Es würden dadurch mit Blick auf das andere Blogthema bspw. unnötige Defizitbeschreibungen, die an den Eltern und Kindern ansetzen, verringert, da sich der Blick konstruktiv auf einen gesellschaftlichen Konsens bezieht. Hilfe/Kontrolle könnte dann ersetzt werden durch
    Hilfe = Hilfe/Nicht-Hilfe bezogen auf das Klientensystem,
    Kontrolle = Hilfe/Nicht-Hilfe bezogen auf einen normativen gemeinschaftlichen Konsens.
    Ein bekanntes Programm, das, wenn man so will, anhand dieser Interpretation erklärt werden kann ist die breit verankerte Institution Jugendhilfeplanung, die nach strukturellen Lösungen sucht und die Frage nach Hilfe/Nicht-Hilfe nicht im Einzelfall beantwortet.

    Die Reflexion der Differenz Hilfe/Nicht-Hilfe führt zudem dazu, dass SozialarbeiterInnen überhaupt zu entscheiden haben: Wem helfen wir mit unserem Programm (der Gemeinschaft, den Interessen der Einrichtungsleitung, den KlientInnen, …)? Wem nicht? Wo soll meine Intervention ansetzen, wo nicht? Welche Wirkung/Nebenwirkung hat meine Intervention? Welche nicht? Diese Entscheidung ist aus meiner Sicht unerlässlich für die Fachlichkeit Sozialer Arbeit, dementsprechend hilfreich erscheint mir der Rekurs auf Hilfe/Nicht-Hilfe auch im konkreten Arbeitsfeld/Praxisalltag.

  2. Eigentlich wollte ich mich ja aus den Diskursen so weit als möglich raus halten, aber da hier (noch) nicht wirklich der Bär steppt, sage ich jetzt doch auch was 🙂

    Ich mache meine Frage weniger an den Reflexionsoptionen fest, die Hilfe/Nicht-Hilfe aufmacht, auch nicht an den Graden von Transferleistung, die notwendig sind, um den Unterschied auf verschiedene Arbeitsfelder anzuwenden. Mir stellt sich die Frage, wie hilfreich dieser Unterschied in der Beschreibung von Sozialer Arbeit ist bzw. wie anschlussfähig er ist? Wie beschreiben SozialarbeiterInnen denn ihre Profession gegenüber Politik, Medizin, Recht, Wirtschaft? Was ist denn das eigenständige bzw. die Identität unserer Profession? Bewegen wir uns systemtheoretisch exklusiv im Fall/Nicht-Fall oder Hilfe/Nicht-Hilfe-Schema?
    Letzte Woche war ich auf einer Tagung für Offene Jugendarbeit in Berlin und da wurde kritisch angemerkt, dass an den Hochschulen viel systemisches gelehrt würde aber keine Jugendarbeit mehr vermittelt wird.
    Da hat dann wohl irgendwer irgendwann irgendetwas verpennt…

  3. Meines Erachtens ist Hilfe / nicht Hilfe der Code des Funktionssystems Soziale Arbeit. Ein Blick in die Geschichte ist für die Untermauerung dieser These sehr hilfreich.
    Der Sozialstaat ist eine Folge des modernen Kapitalismus. Durch die Einführung der Sozialgesetzgebung im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die marktwirtschaftlichen Möglichkeiten restringiert und den ArbeiterInnen ein Minimum an Rechten und Absicherungen gewährt. Dies waren keine Almosen oder Wohltaten, sondern notwendige, oft durch staatlichen Zwang durchgesetzte, Maßnahmen (vgl. Weber 1921/ 1972, S. 652). Der Sozialstaat wurde notwendig, da der Markt, mit den Worten Webers, kein Ansehen der Person kennt (vgl. Weber 1985a, S.383). Persönliche Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt der Markt nicht. Nur die Funktion bzw. Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen sind entscheidend. Um diese Auswüchse einzudämmen und um ein funktionierendes Sozialwesen zu gewährleisten, konnte sich der Sozialstaat durchsetzten und entwickeln. Unter diesen Bedingungen entstand ein neuer Berufszweig. Das Helfen wurde zum Beruf (vgl. Müller 1988).
    Systemtheoretisch heißt das, dass mit steigender funktionaler Differenzierung der Gesellschaft ein Funktionssystem notwendig wurde, welches sich denen zuwendete, die aus Funktionssystemen (Wirtschaft, Politik etc.) exkludiert wurden. Die erste Entscheidung, dass dieses System zu treffen hat, ist, wem wird Hilfe gewährt und wem nicht. Und nicht etwa, Teilhabe / nicht Teilhabe oder Fall / nicht Fall. Diese beiden Operationen sind auf der Programmebene anzusiedeln, denn Hilfe / nicht Hilfe geht ihnen immer zeitlich und somit auch operativ voraus.

  4. feierabendlich nicht allzu ernste gedanken [ist ja ein blog]
    tja das festhalten an differenz im wissen um die reine konstruktion solcher differenzen zur vermeintlichen beherrschbarkeit der komplexen und unvorhersehbaren alltagswirklichkeiten hat ggf was mit beherrschungsfanatsien und machthoffnungen zu tun und schafft damit eben differenz und nicht die dekonstruktion von differenz…das mit mehr jugendarbeit und weniger systemtheorie finde ich super 😉
    wie wäre es denn mit einem ansatz ‚leichte sprache und systemtheorie‘ 😉 ?

    • Was ist das Ziel? Die radikale und absolute Auflösung jeder Differenz? Der Preis hierfür ist, wenn man dieses Unterfangen wirklich durchzieht, keinerlei Aussagen über die Umwelt mehr tätigten zu können. Denn selbst eine Dekonstruktion bringt neue Konstruktionen mit sich. Und somit auch neue Differenzen. Zwei Möglichkeiten gibt es, dem zu entgehen. Erstens, man schließt sich Adorno an: Die verständliche Ablehnung von Herrschaft und Macht (u.a. in der Sprache) ließ Adorno in die Sphären der Musik flüchten. Aber Musik immer nur ohne Gesang ist ja auch irgendwie dings…. Zweitens: keinerlei Differenzen mehr zu vollziehen heißt, in einem Stadium der Auflösung zu sein. Sprich, man ist tot. Im Tot sind unzureichende Komplexitätsreduktionen der Umwelt nicht mehr notwendig.
      Da ich Aussagen über meine komplexe Umwelt machen möchte, wird mir nichts anderes übrig bleiben, weiterhin meine Herrschaftsfantasien und Machthoffnung auszuleben. 😉

      • Ob Differenzlosigkeit gleich Tod zu setzen ist, wage ich stark zu bezweifeln. Vielmehr scheint mir Differenzlosigkeit als Basis für Unterscheidungen. Von dieser Grundlage aus entsteht das Universum der Unterscheidungen von Moment zu Moment und von Ereignis zu Ereignis neu. Differenz ist nur in der Differenz Differenz/Nicht-Differenz denkbar, oder? Jetzt würde ich gerne hören, was ein Zen-Meister dazu sagen würde. 🙂

  5. sehr gut markus 😉 zumindest wir beide haben hier langsam unseren spass? liest ja eh niemand mit…
    wie du weisst hat ja jede medallie drei (!) seiten…also gibt es ggf. noch eine weitere idee: die akzeptanz der ambivalenz, d.h. dass die differenz nicht existiert sondern zur beherrschung (von was auch immer – manchmal ja schlicht des vermeintlichen durchblicks) konstruiert wird und ich zugleich akzeptiere, dass diese anscheinende umwelt nur meine gedankliche umwelt ist und ich somit ein aktiver teil von ihr bin, allein schon durch meine konstruktionsleistung der unterscheidung? und dass ich zugleich ohne solche prozesse nicht vorwärts komme? also stete reflexion der ambivalenz…
    übrigens muss ’soziale arbeit‘ nur als refinanzierte sozialstaats-soziale-arbeit aufgefasst werden? auch da gibt es ja durchaus varianten

    • Der Blog-Allvater sieht und liest Alles!
      (zumindest in der aktuellen Häufigkeit von Beiträgen)
      Ich finde den Ansatz, hier ein bisschen Party zu machen, auch ganz gut. Vielleicht kommen ja noch ein paar mit auf die Tanzfläche. Ich denke, von locker flockig bis todernst sollte hier alles erlaubt sein, oder?

  6. Hallo in die Runde,

    nun ja, langsam aber sicher entsteht eine Diskussion ;), die voller Tatendrang voran geht, aber noch in den Fragen bezüglich des Erkennens festhängt. Lieber @stefan, ich habe sehr viel Spaß! Das vorab;).

    Nun ja womit beginne ich? Zunächst einmal zu unserem Blog-Allvater: Mit meinem Beispiel, dass erst durch den Tod eine Differenzlosigkeit möglich ist, meine ich, dass erst mit dem Tod, aus der Perspektive des Menschen, keine Differenzierungen mehr vollzogen werden. Wie @stefan ja betonte, sind die Differenzen durch den Menschen (oder anderen Tieren) konstruiert (psychisches und soziales System). Klappe zu, Affe tot heißt somit, dass durch das Ableben keine Leistungen des psychischen/ organischen Systems mehr möglich sind (auch keine Differenzierungen mehr.) Hierzu fällt mir gerade Schrödingers Katze ein 😉 …

    Nun zur Reflexion der Ambivalenz: nun ja, hierbei stimme ich prinzipiell zu, aber dessen Durchführung ist äußerst selektiv und kann nur in geringen Maße vollzogenen werden, deswegen betonst du auch die Akzeptanz der Ambivalenz! Zudem hat jede Medaille nicht drei Seiten, sondern
    wesentlich mehr (Blick durch ein Elektronenmikroskop..nur so, weil es so gut zum Thema passt.. ;).

    Ein Problem habe ich immer noch mit dem Wort Beherrschung. Warum? Das Wort ist fehl am Platz. Denn die Differenz wird nicht konstruiert um zu beherrschen, sondern um in der Umwelt handlungsfähig zu sein, oder in der Sprache der Systemtheorie, um sich strukturell mit der Umwelt zu koppeln (psychisches System). Um etwas zu Beherrschen benötigt man Macht und dies ist ein genuin sozialer Asket bzw. nur in sozialen Systemen relevant. Somit ist der Begriff unpassend und problematisch.

    Nachdem diese Diskussion bezüglich der Erkenntnistheorie sehr viel Platz einnimmt, möchte ich hiermit noch einmal auf das „eigentliche“ Thema zurückkehren.

    @stefan, es ist möglich, Soziale Arbeit nicht nur als eine „refinanzierte sozialstaats-soziale-arbeit“ zu verstehen. Es gibt aber gute Gründe, dies dennoch zu tun. Einige habe ich dargelegt. Was sind nun Alternativen und welche Probleme ergeben sich aus meiner Erklärung? 😉

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