Exit Brexit?

Es erscheint mir schon sehr bemerkenswert, wenn ich mir ansehe, was in den sog. westlichen Staaten passiert. Allerorten kann man von Spaltung und Teilung der Gesellschaft lesen. Prominente Beispiele sind hier Amerika in und zwischen den Wahlkampfzeiten, Deutschland und Europa während sowie vor und nach der Flüchtlingsfrage, Griechenland während der Schuldenkrise (von Griechenland liest man nix mehr)…

Da setzen die Briten (zumindest etwas mehr als die Hälfte von 70%) einen drauf und wollen eine vertraglich geregelte Spaltung – nämlich die aus der EU. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen sieht es fast so aus, als ob die Briten auch aus der EM raus wollen…

Was mir hier dazu einfällt ist, dass die aktuellen Strömungen, die von Populisten weidlich ausgenutzt werden, nicht allzu neu sind. Die Logik der Spaltung, des Aussteigens aus gesellschaftlichen Vereinbarungen wird ja schon länger betrieben: Marktinteressen stehen vor dem Gemeinwohl, Steuern werden nicht gezahlt, sondern nach Panama verschifft – kurzum: das Kapital schert sich einen feuchten Dreck um die Errungenschaften des Abendlandes und kümmert sich hauptsächlich um sich selbst. Erscheint es da allzu verwunderlich, wenn der „kleine Mann“ dazu übergeht, auf die Errungenschaften des Abendlandes (z.B. Nächstenliebe, Menschenrechte, Unschuldsvermutungen, Freiheit) zu pfeifen und sich nur um sich selbst zu kümmern? Da sollen dann Mauern gebaut, aus der Koalition ausgetreten oder eben der Exit aus der EU betrieben werden (die Korrelation zwischen dem Alter und der Zustimmung  zum Brexit erscheint mir doch auch bemerkenswert)…

In 90 Sekunden ist England raus aus der EM.

Hat hier irgendwer eine Idee?

England ist jedenfalls raus…

13 thoughts on “Exit Brexit?

  1. http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-boris-johnson-wird-meist-gehasster-mann-englands-a-1100062.html

    wenn ich Verschwörungstheorienanhänger wäre, könnte man glauben, da wird für uns Pöbel ein Schmierentheater aufgeführt, worüber wir uns so richtig aufregen können – da wiederholt sich ein Muster, welches man auch im US-Wahlkampf im konservativen Lager beobachten kann (auch bei uns?): Zündeln und dann erschrocken sein, wenn´s brennt…

    • „Das hat aber nun wirklich nichts mit sozialer arbeit zu tun!“
      Kann man scheinbar so sehen, muss ich aber nicht 😀
      Für mich hat das sehr wohl mit Sozialer Arbeit zu tun. Nur, ohne die kulturellen und gesellschaftlichen Muster zu reflektieren, orientiert sich die Praxis gerne am Einzelfall – bestenfalls im Sozialraum – oder arbeitet sich gar daran ab. Und dabei kann man dann besonders gut individualisierte Zurechnungen auf Personen, Familiensysteme, Organisationen oder Gemeinwesen vornehmen…

  2. Nachtrag: Und es macht – glaube ich – schon einen sehr bedeutsamen Unterschied, ob ich einseitig zurechne oder mir Gedanken mache, welche Logiken und Muster generell im Spiel sind, welches sich Gesellschaft nennt.

  3. Hallo,

    ich finde, die Entscheidungen der Menschen in den Midlands, oder dass fast zwei Drittel der 18-24 jährigen nicht gewählt haben, geben für ein Projekt der sozialen Gerechtigkeit, ein Projekt der Versöhnung der Klassen, viel Anlass für Nachdenklichkeit.

    Wo und wie vermittelt Soziale Arbeit eine soziale Vision, die (welche) Menschen erreicht ?

    Beste Grüße
    Wilfried

  4. Hallo,
    ich habe noch paar Fragen. Eine wäre, wer beschreibt die Verbindungen (Ko-Evolution) zwischen Leuten mit viel sozialem Stress und wenig belastbaren Visionen mit den Leuten mit viel Geld und vielen belastbaren Kontakten, die beispielsweise Kampagnen für den Brexit finanzieren können?

    Wer meint, das hat nichts mit Sozialer Arbeit zu tun, kann sich ja mal die Aktivitäten der Neue Initiative Sozialen Marktwirtschaft (INSM) anschauen. Die hatte vor Jahren ganz toll gemachte Anzeigen geschaltet, dass die Sozialhilfe zu hoch ist und war dabei ähnlich seriös wie die Brexit-Kampagne.

    Meiner Überzeugung nach, wird uns der Brexit – und seine Muster – noch lange beschäftigen.

    Wilfried

  5. Hallo an alle,
    nun ja, der Brexit hat sehr viel mit der Sozialen Arbeit zu tun und insbesondere mit einer bestimmten Art von Sozialpolitik, die ja immer sehr eng mit Sozialer Arbeit verwoben ist. Wenn man die Argumente der Brexit Befürworter ansieht gibt es zwei zentrale Aspekte. Erstens, die EU ist undemokratisch, da Bürokraten in Brüssel die Politik bestimmen, und zweitens die Einwanderung ist zu hoch und diese Einwanderer nehmen „uns“ etwas weg (Arbeit, Rente, Frauen etc.).

    Das Erste Argument ist meiner Meinung nicht so abwegig, da die EU tatsächlich demokratische Mängel aufweist. So ist das Europaparlament das Organ, welches man direkt mitbestimmen kann. Aber das zentrale Organ ist die Kommission und der Rat. Und hier sitzen die Länderchefs bzw. eingesetzten Kommissare zusammen. Die demokratische Legitimation ist hier besonders mangelhaft, da ich eben nur eine Landesvertretung wählen kann und die anderen eben nicht. Von daher war diese Kritik nicht so abwegig.
    Das zweite Argument fruchtet dort, wo soziale Spannungen und Armut schon längst den Alltag der Menschen bestimmt und dies ist nun einmal nicht im Zentrum London, sondern in der Peripherie. Strukturwandel und eine neoliberale Politik hat in England seit den 80er Jahren dafür gesorgt, dass sich der Staat einerseits immer stärker bei der Unterstützung von Benachteiligen zurückgezogen hat und andererseits eine repressive Sozialpolitik aller workfare durchgesetzt hat. Aus dieser Gemengelage sind vielen Menschen geneigt, eher ihre eigene, gesellschaftlich akzeptierte und geschaffene Armut anderen ebenfalls unterprivilegierten Menschen zuzuschieben. Es ist leichter bestimmte Rassismen und Vorurteilen zu folgen, als sich mit der Komplexität von Strukturwandel und neoliberalen Ideologien auseinanderzusetzen, insbesondere wenn erstere von zentralen Akteuren in Politik, Medien und Zivilgesellschaft bedient und angeregt werden. England ist gespalten und diese Spaltung zieht sich nicht primär zwischen Alten die raus wollten und Jungen die jetzt ihre Zukunft schwinden sehen, oder einer „dummen“ Landbevölkerung und einer „weltoffenen“ Stadtbevölkerung – wobei diese sich fast auf London beschränkt, sondern die Spaltung vollzieht sich zwischen Arm und Reich. Und diese zentrale Spaltung nimmt in ganz Europa zu und vollzieht sich auch zwischen Ländern (Nord- Südgefälle). Und es ist genau diese Spannung, welche die EU noch länger begleiten wird.

  6. Hallo,

    als Systemiker kann man dazu beitragen, zu realisieren, wie „Brüssel“ und die „EU“ eine soziale Adresse sind, auf die man bedenkenlos zurechnen kann, was man will.

    In welchem Umfang in Brüssel nicht autonome Bürokraten ihre Ideen verwirklichen, sondern wohl die Kommunikation stattfindet, die u.a. von Lobbyisten mitverantwortlich organisiert wird, lassen die EU Kritiker gerne außen vor (z.B. der bayereische Ministerpräsident und Marktideologen).

    Wie in ganz alten Zeiten, in der Ferne sind die schlimmen Mächte.

    Schöne Woche trotz schwieriger Zeiten
    Wilfried

    • Naja, das kommt darauf an, manchmal wohnen die schlimmen Mächte auch in der Nachbarschaft. 😀

      Für mich besteht die Frage darin, wie man einer Kultur, in der festgefahrene Schubladen oder Ressentiments (z.B. gegen Politiker, Unternehmer, Pharmalobbyisten, Flüchtlinge, Polizeibeamte, Hartz IVler, Jeromes, Journalisten, machtblinde Systemiker, usw.) als Sieg des kritischen Denkens im Angesicht der unmündigen bzw. unaufgeklärten Masse – je nach eigener Ausgangs-Perspektive – gefeiert werden, Alternativen zur Verfügung stellen kann?
      Wie kann ich das Weltbild meines Nachbarn oder meiner Adressaten erweitern, damit es Unsicherheit entsprechend anders verarbeitet und nicht auf schnelle Versprechen und eindeutige und festgefahrene Zuschreibungen referieren muss?

      Neulich hat mir eine Jugendliche erzählt, dass ihre Abschlussfahrt nächstes Jahr nach Berlin wegen der aktuellen Bedrohungslage ausfallen muss – es sei zu gefährlich. Das erzählen Lehrer Kindern? Ich habe ihr dann erstmal klar gemacht, dass sie sich in Lebensgefahr begibt, wenn sie mit ihren Freunden mit bei mir im Auto fährt – es sterben schließlich mehr Menschen im Auto als durch Terroranschläge. Wir waren auf der Sommerrodelbahn. Und haben überlebt. Dem Herrn sei es gedankt…

  7. Hallo,

    die Situation ist schwierig und Nachdenklichkeit eine wirksame und folgenreiche Strategie.

    Ich probiere es mal mit folgenden Überlegungen. Offensichtlich ist soziale Platzierung ein so größes Bedürfnis, dass dafür Teile der Bevölkerung viele Grundrechte oder demokratische Errungenschaften weniger wertschätzen.

    Die Soziale Arbeit, die ihren Adressaten/Klienten das Gefühl – und die Fakten – vermittelt, Hilfeempfänger zu sein , nimmt indirekt oder direkt eine soziale Platzierung vor, die möglicherweise als entwürdigend empfunden wird. Die Auflage, sich selbst zu helfen, macht es wahrscheinlich nicht besser.

    Nun ist der Ausweg aus diesem Dilemma, den Klienten die Teilhabe am demokratischen Prozess zu vermitteln, mehrfach belastet. Schon die „Vermittlung“ ist in der Gefahr, den Empfängerstatus zu verdoppeln.

    Die demokratische Teilhabe muss darüber hinaus erlebbar und erfolgreich sein. Wenn das nicht erlebt wird – besteht eine andere Seite, die das zumindest in der Form erlebbar macht, dass man Anderen in die Suppe spucken kann, z.B. durch ein Brexit-Votum, AfD wählen oder schwärmen für narzisstische Politiker.

    Die Ermöglichung von „kommunikativem Vorkommen“ , dass weniger schädigend ist (für die Betroffenen wie für die Allgemeinheit), halte ich für ein vorrangiges Ziel.

    Beste Grüße und vielen Dank fürs Mitnachdenken
    Wilfried

    • „Die Ermöglichung von „kommunikativem Vorkommen“ , dass weniger schädigend ist (für die Betroffenen wie für die Allgemeinheit), halte ich für ein vorrangiges Ziel.“

      Diese Formulierung nehme ich gerne mit, weil sich aus ihr viele Fragen ergeben, die weiterführend sind, wie z.B.:
      Wie und wo können Jugendliche, Kinder, Senioren, Familien, usw. als „echt“ erlebte Teilhabe in ihrem Gemeinwesen erfahren?

  8. khosh Geldiniz meine Herren, Judith und Eleonore,

    auch bezugnehmend auf Wilfried Hosemann [on 17. Juli 2016 at 16:34] kann ich zu auditiven Informationsnahme auf das Projekt Buermeyer/Banse oder mit anderen Worten deren Webradio und Podcast
    „Lage der Nation“
    verweisen:
    Banse Journalist, Bürmeyer Jurist, in und aus Berlin. http://www.kuechenstud.io/lagedernation/

    Sie setzen sich gut recherchiert betreffend aktuelle Vorkommnisse und mit mehr Zeit und Tiefe als andere vergleichbare Medien u.a. mit den aktuellen Folgen/ Problemen die durch den Brexit entstehen oder entstehen könnten ziemlich gut auseinander.

    Weiterhin kommt in der derzeit aktuellsten Lage der „Reichstagsbrand in Ankara“ und dessen „Folgen“ (Anführungszeichen deshalb, weil „Folgen“ auf eine Kausalität hinweist, die den „Putsch“ gegen Jan B.s Schmähgedichtsadressaten an den Beginn einer Abfolge setzt, aus der sich alles Folgende ableiten lassen soll) in der Türkei zur Sprache. und da würde mich mal interessieren, was die dortigen SozialarbeiterInnen da künftig für Aufgaben haben oder bekommen werden. Weiß da jemand was?
    Der Typ, den Erdogan da als Strippenzieher beschreibt, Fetullah Gülen (lebt derzeit in den im Exil in den USA) kann u.a. einer Dissertation von Bekim Agai aus dem Jahr 2008 nach, als Schöpfer und Betreiber einer islamischen Bildungsbewegung eines Bildungsnetzwerkes internationalen Umfangs beschrieben werden, das durchaus auch sozialpädagogische Elemente befördert, die einer christlichen Sozialpädagogikgeschichte nicht unähnlich erscheinen.
    Insofern scheint die Absetzung von Lehrern, Unipersonal, usw. nur ein Teil dessen zu sein, was Erdogans Clique gerade vollführt. Es ist auch anzunehmen, dass dies Teile der Sozialen Arbeit und Wohlfahrtsverbände in der Türkei betrifft. In welchem Umfang werden wir wohl nie mitbekommen, wenn sich niemand in Deutschland die Mühe macht, sich mit der Sozialen Arbeit in der Türkei auseinanderzusetzen… Forschungsprojekte über Forschungsprojekte und nur ein Leben gerade.

    Tesekkürler ve
    Iyi Aksamlar

    PS ist eigentlich Jan Böhmenmanns Aktion „Schmähgedicht“, dessen inhaltliche Qualität ja unbestritten unterste Schublade ist, nach den aktuellen Vorkommnissen alternativ zu bewerten?

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